Ente Bagdad: Niemand watschelt alleine

19.11.2019
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Ente Bagdad in Tel Aviv

Der Freizeitsportverein FC Ente Bagdad erhielt am Tag vor dem Länderspiel gegen Nordirland in Frankfurt am Main den diesjährigen Julius Hirsch Preis. DFB-Präsident Fritz Keller, Andreas Hirsch und Campino haben den Preis überreicht.

 

Vor 46 Jahren schrieben sie also dem Deutschen Fußball-Bund einen Brief und warteten vergeblich auf Antwort. Keine Absage, kein tut uns leid, nicht ein einziges Wort. Es brauchte ein paar Jahre. Die gegenseitige Anerkennung entwickelte sich eher behutsam. Heute schätzt man beim DFB – und nicht nur dort – alles, was der Freizeitfußballverein FC Ente Bagdad so macht. Die Mainzer Ente engagiert sich sozial – lautstark und aufrecht. Mit Augenzwinkern, aber im Kern immer ernst gemeint. Bereits 2006 standen die Enten in der Mainzer Staatskanzlei, um mit dem Europapreis ausgezeichnet zu werden. Im Frankfurter Palmengarten haben die führenden Klubmitglieder nun am Montag ihre bisher bedeutendste Auszeichnung erhalten.

 

Anfang November sitzen die vier Entenväter im Mainzer Restaurant 'Hintz und Kuntz', um über ihren Verein zu reden. Ronald Uhlich und Werner Pilsner sind jeweils 65, Wolfram Giese 64 und Bernd "Zocki" Furgoll, der beste Enten-Spieler, der es später bis in die 3. Liga schaffte, ist nun auch schon 62 Jahre alt. In der Mitte des Holztisches verfolgt eine gelbe Plastikente das Geschehen teilnahmslos. Bis heute bekommt die jeder Gegner statt eines Wimpels überreicht. Das Vereinsmotto lautet "You’ll never watschel alone".

 

1973 standen sie kurz vor ihrem Abitur, begeistert spielten und schauten sie Fußball, verabscheuten dabei alles Biedere und Nationalistische und wollten unbedingt ihre eigene Mannschaft gründen. "Aber bloß keine Thekenmannschaft, die hießen alle Germania oder 'Das runde Eck', da ging’s viel um den Verlust der Muttersprache", erzählt Ronald Uhlich. "Wir dagegen fühlten uns eher der 68er-Protestgeneration zugehörig." Die APO skandierte "Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren" und die vier Freunde wähnten ähnlich muffige Ausdünstungen unter den Fußballtrikots. Dagegen wollten sie aufbegehren. Die Zeit damals war halt so. Purple Haze, Walter Jens, Fußball aus der Tiefe des Raums, das alles war ihnen wichtig.

 

"Der FC Ente Bagdad lebt Werte wie Respekt und Toleranz beispielhaft vor"

 

Spiel mit Kippa

Seitdem ist viel geschehen. Im Frühjahr 2018 trugen die Spieler beim Auflaufen eine Kippa. In Berlin hatte ein Mann einen jüdischen Mitbürger auf der Straße attackiert, hatte mit seinem Gürtel auf den Mann mit der Kippa eingedroschen. "Antisemitische Übergriffe sind Angriffe auf jeden von uns", protestierte der FC Ente Bagdad. Etliche Spieler von Ente Bagdad bringen muslimische Wurzeln mit, und auch sie trugen beim Auflaufen eine Kippa. "Das war sensationell, die Selbstverständlichkeit, mit der das geschah", sagt Furgoll.

 

"Ein Musterbeispiel für Toleranz und Vielfalt", sieht Dr. Reinhard Rauball im FC Ente Bagdad. Der ehemalige DFL-Präsident gehört genauso wie Charlotte Knobloch, die bis 2010 dem Zentralrat der Juden vorstand, und der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, der Jury des Julius Hirsch Preises an. Auch Rauball votierte für den FC Ente Bagdad. "Sie sind ein würdiger Preisträger. Unter anderem im Rahmen des alljährlichen Erinnerungstages leistet der Club seit vielen Jahren einen sehr wertvollen gesellschaftlichen Einsatz."

 

Zum Tag der Auschwitzbefreiung wird in den Stadien und auf den Plätzen von der Bundesliga bis in die Kreisligen ein Zeichen gegen Antisemitismus und Diskriminierung gesetzt, oft mit einer Stadiondurchsage und einer Bildeinblendung auf der Videowand. Der FC Ente Bagdad schaffte es, dass bei einem Bundesliga-Spiel in Mainz die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer vom Mittelkreis aus zu den Fans sprach. Auch sie gratulierte nun persönlich zum Julius Hirsch Preis. "Der FC Ente Bagdad lebt Werte wie Respekt und Toleranz beispielhaft vor. Solche Initiativen sind wichtig, weil sie den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken." Und auch der Vorstandsvorsitzende des 1. FSV Mainz 05 Stefan Hofmann schickte eine Glückwunschnote: "In unseren gemeinsamen Projekten wie beim Erinnerungstag oder bei anderen sozialen Projekten von Mainz 05 erleben wir seit Jahren den leidenschaftlichen Einsatz der Spieler von Ente Bagdad. Sie kämpfen für die gleichen Werte wie wir. Dafür zollen wir dem FC Ente Bagdad großen Respekt, er ist uns ein Ansporn für unser eigenes Engagement für Toleranz und Weltoffenheit."

 

International im Einsatz

Eine Wiese auf dem Mainzer Lerchenberg, Teppichstangen dienten als Tore; dort spielten sie, als 1973 alles losging. Eine halbe Stunde zu spät kam man mindestens, alle hatten lange Haare, trugen gebatikte Hosen und Wolfram Giese eine Feder am Ohr. Im Brauhaus zur Sonne brütete man den Namen aus. "Uwe war dabei, Ronald, Zocki, Caruso, Schwäbli und ich", erzählt Werner Pilsner. "Barfuß Bethlehem und Schildkröte Damaskus hatten Chancen. Dann sagte einer 'Ente Bagdad'. Und alle: 'Hä, was is'n das?'."

 

Sie waren Fans der Nationalmannschaft wegen des "Traumfußballs damals" und Eintracht-Fans wegen "Grabi und Holz." In dem Brief an den DFB bat man um einen Kontakt in den Irak, dort wollte man erstmals international spielen. "Werner hatte vergessen, einen frankierten Rückumschlag beizulegen", meint Bernd Furgoll trocken. Die Ente spielte dann aber bald international. Man trat an gegen ein tibetanisches Team in der Schweiz, in Liverpool und Manchester, in Österreich, Polen und in Rom, in Bolivien ("unser höchster Sieg"), 2005 in Syrien und zuletzt gegen Maccabi Haifa und in einem Kibbuz in Israel.

 

In Dijon waren sie für ein Benefizspiel eingeladen, man feierte die 50-jährige Freundschaft zwischen Rheinland-Pfalz und der Bourgogne. Pilsner: "Die Franzosen dachten, die kommen aus Mainz, oh là là, die können was. Die meisten von uns aber waren Ü 40 und ein paar schon Ü 60. Wir laufen also auf, und dort erwartet uns eine Mannschaft aus lauter ehemaligen Erst- und Zweitligaspielern. Éric Carrière, der hatte zehn Länderspiele bestritten, spielte bei denen. Gottseidank funktionierte die Ergebnisanzeige nur einstellig."

 

"Das ist unsere DNA"

Mehrere Millionen Euro investiert der DFB jährlich in seine sozialen Projekte, in die Stiftungen und Preise. Vor fünf Jahren formulierte man in einem sogenannten "MissionStatement" die Klammer. Dort heißt es zu Beginn: "Der Fußball schafft vielfältige Orte der Gemeinschaft, die es zu bewahren gilt." Genau das macht Ente Bagdad. 2014, als es noch keine Willkommenskultur gab, ging man schon in die Asylheime, man besucht Behindertenwerkstätten und lädt die Leute zum Fußballspielen ein. Immer noch kickt man samstags mittags und der Älteste ist etwas über 70, die jüngste Ente gerade mal 16. Mainzer aus aller Welt schauen vorbei. "Weil die hören, dass wir eine offene Fußballmannschaft und dass wir nett sind", sagt Uhlich. 

 

Mit etwas Sorge blicken sie in die Zukunft, denn Positionen, die früher Konsens waren, sind heute vielleicht nicht mal mehr Mehrheitsmeinung. Uhlich sagt: "Wir sind felsenfest gegen Fremdenfeindlichkeit, für ein weltoffenes Land, gegen Rassismus und Antisemitismus. Das ist unsere DNA." Aber ist es noch die DNA des Landes? "Die stärkste Wählergruppe in Thüringen", sagt Werner Pilsner, "waren die unter 30-Jährigen. Das hat mich geschockt."

 

Wolfram Giese, der vor 40 Jahren gebatikte Hosen und eine Feder im Ohr trug, ergreift jetzt das Wort. "Ich bin jedenfalls stolz darauf, Teil dieses Vereins zu sein, ein Mitglied von Ente Bagdad. Und zwar gerade wegen unserer Werte. Weil wir einfach das Richtige machen. Da muss man gar nicht viel drüber reden. Vielleicht ist Empathie das richtige Wort. Und dass dieses neue rechte Denken in unserem Land nicht sein kann. Die Ente könnte in diesem Sinne ein Symbol fürs Land sein. Weil man als Gemeinschaft ein Ziel braucht, für das man steht. Und wenn's eng wird, auch dafür einsteht." Vor mehr als zehn Jahren schloss man sich als FreizeitfußballAbteilung dem Verein  Vitesse Mayence  an. Immer noch wird samstags gekickt, jetzt aber auf einem richtigen Platz mit Toren. Die Teppichstangen bleiben stehen, aber nur in der Erinnerung. 

 

Text: Thomas Hackbarth / FUSSBALL.DE